Let’s Talk … mit Cluny Macpherson: Leeds 2023 – Auf der Zielgeraden der Bewerbung

Let’s Talk … mit Cluny Macpherson: Leeds 2023 – Auf der Zielgeraden der Bewerbung

Eindrücke und Rückschlüsse von Philip Zerweck aus dem Vortrag und der anschließenden Diskussion am 20. September im Künstlerhaus, Nürnberg.

Die Veranstaltung ist mitgeschnitten worden und wird wahrscheinlich auf der städtischen Internetseite https://www.nuernberg.de/internet/stadtportal/bewerbung_europaeische_kulturhauptstadt_2025.html#57 nachzusehen sein.

Cluny Macpherson ist Kultur- und Sportreferent der City of Leeds, leitet die Bewerbung der Stadt und referierte auf Englisch über den dortigen Bewerbungsverlauf – eine Livedolmetscherin war organisiert. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen, das Bieterbuch wird erst im November 2017 abgegeben worden sein. Hier nun die eindrücklichsten Ergebnisse:

Die Idee der Bewerbung Leeds entwickelte sich im Referat um Macpherson (er sprach von „as we had the idea …“). Die City-Regierung reagierte zurückhaltend und verlangte den Nachweis, dass die Stadt Leeds hinter der Bewerbung stünde. (Zum Unterschied City zu Stadt siehe unten!) Ergebnis war eine Bürgerbeteiligung, welche von Anfang an die direkte Beteiligung der Bürger. Erst nach der erfolgreichen Einbindung der Bürger und dem Nachweis, dass diese hinter der Bewerbung steht, bekam die Bewerbung das offizielle Go der Stadtregierung.

Die Bewerbung wird nicht von der Verwaltung der City of Leeds durchgeführt, sondern von einer „Independent Steering Group“. Dies ist ein unabhängiges Steuerungskomitee (auch als Lenkungsausschuss übersetzt), das im Sinne moderner Projektmanagementmethoden sowohl Entscheidungsbefugnis und Verantwortung besitzt als auch Ressourcen der Umsetzung. In einem offenen Verfahren bewarben sich mehr als 180 Personen, um in dieser Gruppe zu wirken.

Inhaltlich konzentriert sich die Bewerbung auf das Erkunden, was die Stadt Leeds heute sei. Daher ist die Einbeziehung umliegender Gemeinden und der Region nicht geplant. Einerseits ist das verständlich, liegt Leeds doch in einer sehr industrialisierten Region alter Schule mit all’ den Transformationsproblemen der Deindustrialisierung. Da liegen Distinktionsreflexe nahe. Andererseits ist generell ein Trend in England zu beobachten, sich rückwärtsgewandte Fragen zu stellen, als ob der kulturelle Transformationsprozess seit den 70er Jahren, das Abhandenkommen ganzer Industrien und des Commonwealth einen Phantomschmerz hinterlässt, der therapiert werden müsse. Womit wir beim Brexit wären:

Die Bewerbung Leeds und aller anderen Städte im Vereinigten Königreich zur ECOC 2023 hing nach dem Brexitreferendum über 6 Monate in der Luft. Auch wenn in Leeds „nur“ 48% für den Brexit gestimmt hatten, war lange nicht klar, wie die Regierung in London die weitere Bewerbung handhaben würde. Kurz vor Weihnachten 2016 kam dann die Entscheidung aus dem Kultusministerium mit dem Auswahlverfahren weiterzumachen. Die Begründung ist, es hätte bereits mehrere Städte gegeben, die ECOC waren, aber deren Länder keine EU-Mitglieder. Die Staaten der Städte Bergen, Reykjavík, Stavanger, Istanbul und Rijeka waren bei ihrer Auswahl jedoch EU-Beitrittskandidaten bzw. als EWR-Staat, Schengenraum-Mitglied der EU sehr verbunden. Nun, wir werden sehen ob im Rahmen der Brexitverhandlungen die Entscheidung der EU 2023 eine britische Stadt auszuzeichnen Bestand hat.

Die Bewerbung läuft auf alle Fälle weiter und Leeds hat inhaltlich reagiert:

1. Das Bewerbungsteam stellte klar, das es sich um einen Europäischen Wettbewerb handelt, nicht um den Titel „UK City of Culture“ der gerade von Hull gehalten wird. Die Europäische Dimension wird also bei jeder Entscheidung mit bedacht.
2. Leeds hat seine Europäischen Wurzeln gesucht, so z. B. die Geburtsstunde von Marks & Spencers in der Markthalle von Leeds durch den jüdischen Polen Michael Marks.
3. Das Bewerbungsteam hat entschieden, dass die Bewerbung alle Bürger von Leeds zu repräsentieren hat, auch die Bexiteers.
4. Die Bürgerbeteiligung, die zu der unmittelbaren Zeit nach dem Referendum in Form direkter Ansprache auf Stadtteilfesten und ähnlichem standfand, ging in den persönlichen Austausch mit den Brexiteers. In Leeds gibt es klare soziale Verteilungen, die sich an Stadtteilen festmachen lässt und die sich an den Wahlergebnissen der Stadtteile ablesen ließ. Irritierend war, dass die allerwenigsten Leute etwas gegen Europa hatten. Das Bewerbungsteam hat keine einzige ablehnende Stimme gegen die Bewerbung eingefangen, so Macpherson.

Leeds ist eine Stadt, deren Wohlstand in der Vergangenheit auf Wolle und der Textilindustrie gründete. Als ein wichtiger, heute sehr lebendiger Faktor des kulturellen Lebens, bildete sich durch die Stoffproduktion der Bereich der „commercial arts“. Im Zuge der Wandlung Leeds zu einer Stadt der Dienstleistung und des Wissens stieg die 1846 gegründete Kunstschule zur Leeds Arts University (Universitätsstatus 2017) auf. Die in angelsächsischen Ländern traditionell geringe Unterscheidung zwischen „reiner“ & „angewandter“ Kunst wurde in Leeds weiter geschliffen: Leeds lebt gedanklich und in der Umsetzung der Ausbildung gegenüber Nürnberg/Bayern im Bereich darstellende, bildende und angewandte Kunst in einem anderen Universum. Entsprechend wird bei der Bewerbung auch nicht in klassischen Hochkulturprojekten gedacht.

Das Thema Sport als Kultur ist für Leeds ebenfalls Charakter bildend. Macpherson wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass reine Sportevents nicht Bestandteil der Bewerbung sein können … allerdings hat Leeds Kulturveranstaltungen im Sinn, die sich um Sport drehen. Es müssen ja keine Eingeborenen-Ethno-Dinge wie Highlandgames sein, aber für Nürnberg könnte man den Begriff Outdoor-Region schon mit Sport füllen, ebenso wie Turnvereine & Sozialbewegungen oder Migration & Fußball …

Kommen wir zu der oben bereits angesprochenen Diskussion, wer sich für wen bewirbt. Im Gegensatz zu Deutschland, sind die Rechte und Pflichten, ja die ganze Frage der Gebietskörperschaften in England nicht so ewigwährend festgehalten. Entsprechend schwer war überhaupt die Verständigung in der Diskussionsrunde. Zur Erläuterung (ohne Details oder Fremdwörter): die „City of Leeds“ ist ein Gebilde, das am ehesten mit einem „Stadtkreis“, also einem städtischen Kreis zu übersetzen ist. Es ist nicht mit einer kreisfreien Stadt vergleichbar. Dieser Stadtkreis Leeds ist der zweitgrößte im Vereinigten Königreich, mit der zweitgrößten Bevölkerung, wobei bei diesen Vergleichen das gesamte Gebiet von „Greater London“ außen vor bleibt, da es anders strukturiert ist. Mit 757.655 Einwohnern ist die City of Leeds mit den vier Städten Nürnberg, Fürth, Erlangen und Schwabach (SENF) zu vergleichen und mit 551,7 qkm nach Fläche mit Erlangen-Höchstadt (eineinhalb-mal so groß wie SENF). Wie das urbane Konglomerat SENF hatte auch der Stadtkreis Leeds mehrere Städt. Diese waren jedoch kleiner als Leeds und hatten 1974 bei der großen Eingemeindung das Nachsehen. Sie sind heute Bestandteil der City of Leeds und bestehen nun als Gemeinden weiter, so z. B. Morley mit dem Status einer „Town“ und Marktrecht, mit ca. 44.000 Einwohnern, so groß wie Schwabach.

Die Entität „Stadt“, also die kulturelle Einheit, auf welche sich die Bewerbung bezieht, ist die Stadt Leeds (ehemaliges County Borough of Leeds), welche 1974 bei der Eingemeindung die Fläche und Einwohnerzahl des heutigen Nürnberg hatte. Die Bewerbung benötigt daher von jeder der 4 Stadtgemeinden und 27 Landgemeinden, die im Stadtkreis bestehen, ein Letter of Intend (Absichtserklärung). Trotzdem muss sich die City of Leeds als Gebietskörperschaft bewerben, da im Vereinigten Königreich hier die Verantwortung für kulturelle Belange angesiedelt ist.

Warum bewirbt sich nicht der ganze Stadtkreis? Das ist eine Entscheidung, die nicht von der EU vorgegeben ist. Galway hat sich bei seiner Bewerbung für 2020 anders entschieden. Auch hier muss die Grafschaft Galway die Bewerbung abgeben, aber nach den Ausführungen von Tracy Geraghty vom Team Galway auf dem Lets Talk am 29. Juni 2016 versteht sich die Stadt Galway in ihrer kulturellen Definition für die ECOC-Bewerbung als Bestandteil der Grafschaft. Bei der Bewerbung für 2023 tritt interessanterweise auch ein Konsortium aus Belfast, Derry und Strabane an: hier müssen diese entscheiden, welchen Namen sie für die Bewerbung verwenden, da sich drei Körperschaften auf der Ebene der Stadtkreise gemeinsam bewerben.

Zusammenfassung für Nürnberg:

• Bürgerbeteiligung ist etwas, das man sofort und als erstes angehen kann, im Falle von Leeds sogar musste.
• Leeds hat eindeutig die Vorstellung einer Bewerbung zu Grabe getragen, welche von klassischer, bildender und darstellender Kunst getragen würde, am Ende gar im Sinne einer Hochkultur.
• Die Vereinigung, bzw. der nahtlose Übergang von „fine arts“ zu „commercial arts“ sind für die ehemalige Industriestadt Leeds ein tragendes Thema, vor allem in der Hochschulentwicklung.
• Die Bewerbung möchte alle Bevölkerungselemente, mit ihren kulturellen Diversitäten gleichberechtigt in der Bewerbung darstellen.
• Eine Bewerbung muss zuvorderst überdenken, wer die Bewerbung für wen macht. Die naive Übernahme, die Verwaltung der Gebietskörperschaft würde die Bewerbung für die kulturelle Identität eines Konstrukts in den Grenzen der Gebietskörperschaft ausrichten, ist zu kurz, betoniert Gegenwart und verhindert Zukunft. Und vor allem verwässert sie die Frage „Welche kulturelle Identität besitzt Nürnberg?“, wenn die räumliche Dimension von Anfang an als gesetzt angenommen wird.

 

Bei Fragen oder Diskussionsbedarf, wenden Sie sich bitte direkt an den Autor: Philip Zerweck, zerweck@heikoundphilippa.de

 

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