Nürnberg, eine europäische Stadt oder die Noris in einem Europa der Städte

Nürnberg, eine europäische Stadt oder die Noris in einem Europa der Städte

von Stephan Raab
Dies ist die Zusammenfassung der Master-Arbeit der Politikwissenschaft des Autors. Die vollständige Arbeit steht am Ende des Beitrags zum Download.

Wir haben ein neues Zeitalter begonnen. Dies ist das Zeitalter der globalen Urbanisierung. Bereits heute leben mehr Menschen in städtischen Gebieten als in ländlichen Räumen und jede Woche kommen weitere 3 Millionen Stadtbewohner in die Cities und Megacities des Globus.

Hier stellt sich die Frage: Was ist eine Stadt? Besser gefragt: Wer ist die Stadt?

Diesen Fragen hat sich die hier vorgestellte Masterarbeit gewidmet. Zunächst wurde die Entstehung von Städten im Allgemeinen, anschließend die Identität Nürnbergs im speziellen analysiert.

Größer, dichter, heterogener – adaptiver

Es gibt keine allgemein gültige Definition davon, was unter einer Stadt zu verstehen ist. Allerdings gab es bereits mehrere Versuche das Phänomen der Urbanisierung allgemein gültig zu formulieren. Der amerikanische Soziologe Luis Wirth definiert Stadt als eine Siedlungsstruktur von bestimmter nicht präziser beschriebener Größe, einer gewissen Dichte der Bebauung sowie der Heterogenität der Bevölkerung. Andere Beschreibungen sprechen davon, die Stadt sei der Ort, wo Fremde zusammenleben. Eine weitere Erklärung schlug der französische Philosoph Henri Lefebvre vor, indem er Städte als „gebauten Widerspruch“ beschrieb. Ein anderer Versuch sich der Thematik zu nähern, ist es Städte als „globale urbane sich selbst organisierende Systeme“ bzw. „komplex adaptive Systeme“ zu verstehen. Dieser Ansatz versteht Städte nicht als reine Bausubstanz, sondern als etwas organisches, dynamisches.

Darunter ist nichts anderes zu verstehen, als das eine Stadt gar nicht anders kann als Diversität zu produzieren, sich immer wieder aufs Neue zu verändern, denke man nur an den berühmten Ausspruch von Karl Scheffler: „Berlin, du bist dazu verdammt zu werden, nie zu sein.“ Städte sind somit vor allem als soziale Netzwerke mit funktionaler Aufgabenteilung zu verstehen. Jedoch je nach Anforderungen an die Tätigkeiten der Stadtbewohner kann sich dieses Netzwerk immer wieder ändern, neue Widersprüche hervorbringen. Diese Diversität ist der wichtigste Erfolgsfaktor und kritischste Stolperstein für das Wohlergehen eines urbanen Raumes zugleich. Die „City Equation“, des Santa Fe Institut, behauptet gar, ohne den Engpass der Energieversorgung, könnten Städte aufgrund der Diversität quasi unendlich weiterwachsen.

Recht auf Stadt in Europa

Entscheidend ist es die urbanen Widersprüche zu verarbeiten. Hier haben sich im Laufe der Geschichte der Urbanisierung verschiedene Ansätze und Stadttypen entwickelt. Während die amerikanische Stadt vor allem auf die Kräfte des Marktes setzt, legt die chinesische Stadt einen wichtigen Fokus auf zentrale Planung von oben. Die europäische Stadt steht als Gegenmodell.

Das wichtigste Merkmal der europäischen Stadt ist die städtische Freiheit, in anderen Worten, Stadtluft macht frei. Bereits der Ursprung Nürnbergs war ein Akt der Emanzipation, in welchem die Leibeigne Sigena aus ihrer Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen wurde. Einzigartig in der Geschichte ist die europäische Stadt ein politisches Subjekt einer emanzipierten Zivilgesellschaft, welche die Zukunft ihrer Stadt aktiv mitgestalten kann. Innerhalb der Stadtforschung wird dies auch als das „Recht an der Stadt“ bezeichnet. Unterschiedliche Auffassungen zur Gestaltung des urbanen Raumes machen Stadtentwicklung in Europa zu einem nicht technischen, sondern hoch politischen Prozess der Planung.

„Stadt ist gebaute Gesellschaft“, schrieb einmal der Soziologe Hartmut Siebel. Konkreter drückte dies der schweizerische Architekt Alain de Botton aus: „Gebäude erzählen von Demokratie, Aristokratie, über Offenheit und Arroganz, über Skepsis gegenüber dem Fremden oder einem freundlichen Willkommen, über die Sympathie für die Zukunft und die Sehnsucht nach der Vergangenheit.“ Architektur wird nicht als hässlich empfunden, weil sie nicht ästhetisch ansprechend wäre, sondern da sie der eigenen Vorstellung der Stadt widerspricht. Auf diese Weise sind Städte das Abbild der Menschen, die in ihnen wohnen, sie gestalten und von der Stadt gestaltet werden. Dieses Konzept wird als Eigenlogik bezeichnet, jede Stadt habe ihren eigenen Rhythmus, bilde ihre eigenen Traditionen und schließlich Identitäten heraus.

Städte waren stets Anziehungspunkte für Einwanderer von nah und fern. Obwohl oder gerade, weil sich die Stadtbewohner nicht kennen, können diese zusammenleben. Die europäische Stadt gilt als „Integrationsmaschine“, welche Zuwanderer zu Bürgern ermächtigen, die urbane Entwicklung mitzugestalten. Sie gestalten die Stadt und werden von diese ebenso gestaltet. Anders ausgedrückt ist dies die urbane Identität, welche Städte einzigartig als besonders macht.

Vernürnbergern und der Nürnberger Witz

„Wer da kommt der soll willkommen sein“, wohl nichts beschreibt die Mentalität der Stadt Nürnberg besser als der Prolog des Christkindlesmarktes, wenn Besucher aus aller Welt in die Stadt aus Holz und Tuch kommen. „Nürnberg liegt im Zentrum Europas“ schrieb einmal der fränkische Astronom Regiomontanus. Beides erklärte den Aufstieg eines einfachen Felsens im Grenzgebiet zwischen Franken, Bayern, Sachsen und Böhmen. Ohne über einen bedeutenden Fluss oder wichtige Rohstoffe zu verfügen, zog die Stadt immer wieder Menschen aus aller Welt und aus den unterschiedlichsten Beweggründen an, die in Nürnberg eine Heimat fanden.

Gleichermaßen geht seit Jahrhunderten der Nürnberger Tand durch alle Land. Aber was macht den Nürnberger aus, was ist es, dass Nürnberg besonders macht, was ist die Identität der Noris?

„Der Nürnberger ist einfallsreich und erfinderisch wie selten ein Volksschlag, wenn er unter guter, leichter Führung an der Verbesserung der Verhältnisse in seiner Gemeinschaft mitwirken kann. Ohne Führung, oder dort, wo die Führung versagt, ist der Nürnberger oft ohne Initiative, haftet zäh an alten Brauch, auch dummen Gewohnheiten. […] Sobald sich aber eine Gelegenheit zeigt, gemeinsam für die Gemeinschaft zu schaffen, dann wacht der „Nürnberger Witz“ auf, dann blitzt es von guten Ideen, dann ist auf einmal übergenug Schwung und Tatkraft da“, heißt es in Nürnberger Wirtschaftsleben von Prof. Seiler aus dem Jahre 1950.

Diese Identität hat sich die Stadt Nürnberg über die Jahrhunderte erhalten. Nürnberg als europäische Stadt war stets die Noris in einem Europa der Städte. Auf der einen Seite stand und steht bis heute das Bemühen die Nürnbergerinnen und Nürnberger am Geschehen und der Entwicklung der Stadt teilzuhaben. Auf der anderen Seite wird auch hier der urbane Widerspruch deutlich, den Nürnberger Witz einerseits und das Vernürnbergern andererseits.

Die vorliegende Masterarbeit kann als eine Art Biographie der Stadt Nürnberg anhand dreier Epochen verstanden werden. Sie vollzieht die Geschichte von der mittelalterlichen freien Reichsstadt über die Industriemetropole bis zur globalen Metropolregion Nürnberg nach.

Die mittelalterliche Noris

„Dort wo der Wind jede Nacht um die Stadtmauern weht, dort wo die Pegnitz sich ihr Bett gesucht hat, wo der Sinwellturm auf dem Burgberg draufsteht, da komme ich her, da ist meine Stadt“, besang einmal der fränkische Sänger und Liedermacher Dieter Weigel die alte Noris.

„Städte sind Nervenzentren von Informationen“ schrieb der Pionier der Stadtforschung Robert Parks. Dies galt insbesondere für die mittelalterliche Noris, war diese für Martin Luther, doch das „Auge und Ohr des deutschen Reiches“. Nürnberg lag im Zentrum wichtiger Handelsrouten und der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches förderte den Aufschwung nach Kräften. Besonders hier wurde der Nürnberger als Tüftler deutlich. Viele wichtige Erfindungen seiner Zeit wie das Nürnberger Ei, die ersten Vorläufer des Automobils, der Rollstuhl, oder erste Ansätze des Fahrstuhls wurden hier entwickelt. Zeitgleich sorgte die Erfindung des ersten Globus auch für einen Niedergang der Stadt. Als Zentrum der Reformation verschlechterte sich das Verhältnis zum Kaiser. Zudem war es bestimmten gesperrten Zünften nicht gestattet ohne Erlaubnis die Stadt zu verlassen, sodass hier der Austausch unter Kollegen ausblieb. Nürnberg verlor an Bedeutung, die Stadt hatte es wie es später hieß „vernürnbergert“.

Die industrielle Noris

Über Jahrhunderte änderte sich anschließend wenig in Nürnberg. „Auf dem Rathaus, in Kirche und Schule, im Handel und Wandel, überall stand das Leben still“, notierte der Lokalhistoriker Georg Wolfgang Lochner zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bis 1806 wurden die Tore der Stadt noch regelmäßig geschlossen. Erst die Industrialisierung brachte neuen Schwung in die Stadt, dank so visionärer Geister wie Sigmund Schuckert oder Johannes Scharrer. Ab 1835 fuhr die erste deutsche Eisenbahn nach Fürth. Aufgrund der Bevölkerungsexplosion auf dem Land kam es zu einer regelrechten Stadtflucht. Die Bevölkerung wuchs von 25.000 um 1806 auf 309.000 im Jahre 1910. Eine Untersuchung von 1890 ergab, dass nur noch 45% der Einwohner Nürnbergs auch in der Stadt geboren wurden. Es gründeten sich viele Vereine für die Zuwanderer, welche jedoch bald dank Assimilation dazu übergingen, touristisch zu werden.

Nach dem düsteren Kapitel des dritten Reiches und den Ruinen des Zweiten Weltkrieges stand Nürnberg als einer der meist zerstörten Städte vor der großen Frage nach der Zukunft. Vorschläge wie die von Alfred Kerr besagten, Nürnberg solle nicht mehr wiederaufgebaut werden, sondern ein Mahnmal für spätere Generationen werden. Die Stadt entschied sich jedoch anders. Bereits 1946 noch in den Trümmern der Noris begann der Wiederaufbau der Burg, als Zeichen für Hoffnung und den Wiederaufbau der Stadt Nürnberg. Ein Bürgerwettbewerb wurde ausgeschrieben, sich mit Vorschlägen am Wiederaufbau zu beteiligen. Die Vorschläge wurden jedoch vernürnbergert, kamen nur vereinzelt zum Tragen. Nichtsdestoweniger der Pragmatismus zwischen Vergangenheit und Zukunft bestimmte auch hier Nürnberg. Unter dem Motto „das alte lieben, das neue leben“ wurde wiederhergestellt was wichtig und oder wiederherzustellen war, aber auch an die modernen Bedürfnisse einer Industriestadt angepasst. Viele neue Bürger kamen in dieser Zeit in die Stadt als Vertriebene, Heimkehrer oder Gastarbeiter. Insbesondere im Falle letzterer zeigte sich der Nürnberger Witz erneut. Als eine der ersten Städte Deutschlands richtete Nürnberg 1971 einen Ausländerbeirat ein.

Die globale Noris

„What will be remembered about the twenty-first century more than anything else expect perhaps the effects of a changing climate, is the great and final, shift of human populations out of rural, agricultural life and into cities.”, meinte der britisch-kanadische Autor Doug Saunders. Die Globalisierung und der Strukturwandel haben ihre Spuren in Nürnberg hinterlassen, denke man nur an die Fürther Straße, die einmal als die industriereichste Straße Bayerns galt. Heutzutage stehen Städte vor zwei großen Herausforderungen, die Integration der Stadt nach innen mit einer superdiversen Gesellschaft und die Integration in ein globales Netzwerk aus Städten. Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen prägte den Begriff der „globalen Stadt“. Anders ausgedrückt sind Städte die Kommandozentralen der Globalisierung, welche diese steuern und gestalten. Eine Untersuchung des Spiegel 1992 erklärte Nürnberg zur „langweiligsten Großstadt Deutschlands“, man sprach gar vom Nürnberg Komplex, eine moderne Form des vernürnbergerns, eher spießig und innovationsfeindlich. Einerseits war es das Projekt koopstadt, welches Städte mit ähnlichem Schicksal, nämlich Bremen und Leipzig mit Nürnberg verband, gemeinsam für jede Stadt eine Strategie zu entwickeln. Hier entstand das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (INSEK), mit der Familie Nürnberg, in der jeder Stadtteil eine eigene Biographie bekam, etwa die Altstadt als Großmutter. In diesem Zuge wurde das ehemalige AEG Gelände aufgewertet, der Südpunkt errichtet und verschieden Kulturläden in den Stadtteilen geschaffen. Die Entwicklung der Stadteile wird durch Stadteilbetreuer und Stadtteilpaten aus der Wirtschaft begleitet und gefördert.

„Es ist gelungen, die Metropolregion Nürnberg national und international auf die Landkarte zu bringen. Einen Lichtpunkt auf die Weltkarte zu setzen“, sagte Markus Lötzsch, Geschäftsführer der IHK Mittelfranken. Es sind viele kleine und mittelständische Unternehmen, welche die Region prägen. Sie machen etwa 40% der Wirtschaftsleistung aus. Diese entsprich jedoch dem Bruttoinlandsprodukt von Ungarn. Hier gibt es nicht ein Zentrum, sondern viele starke Knoten, die auf alten, natürlich gewachsenen Netzwerken beruhen.

Die Zukunftsnoris

„Diese Stadt hat mehr an Erfindungen, Kunst und Wissenschaft hervorgebracht als manche Staaten im gesamten“, schrieb der Verleger Friedrich Campe 1828. Es waren stets Förderer von außen, welche den Nürnberger Witz immer wieder weckten. Das Internet wurde zwar nicht in Nürnberg erfunden, das MP3 Format aber in der Metropolregion. Es sind die vielen kleinen Dinge des Alltages, sei dies etwa Spielzeug, Haushaltsgeräte, die wir im Alltag benutzen. Mittlerweile hat fast jeder zweite Nürnberger seine Wurzeln nicht in Deutschland, aber gemeinsam wurde aus der einstigen Freien Reichsstadt die Stadt des Friedens und der Menschenrechte. Der Nürnberger ist ein auf die Gemeinschaft ausgerichteter Tüftler.

Viele Herausforderungen liegen vor der ehrwürdigen Noris. Dies beschreibt wohl nichts besser, als ein altbekanntes Lied: „Ein Fels in wilder Brandung, der alles überstand. Er hielt in vielen Jahren so manchen Stürmen stand. Die Uhren laufen schneller, die Zeit – sie bleibt nicht steh’n. Der Weg führt in die Zukunft, so vieles wird gescheh’n.“ Das globale Zeitalter bringt viele neue Widersprüche hervor, aber hier hat der Franke seine eigene Methode entwickelt, denn kennt dieser eigentlich nur zwei wesentliche Gemütszustände.

„Des werd scho. Des basd scho!“

Raab, Stephan, Nuremberg, a European City: The Noris, in a Europe of cities: Evolution and adaption of urban citizenship in Nuremberg, Masterarbeit im Studiengang Politikwissenschaft der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 2017

Der Autor erhielt 2018 vom Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg für diese Arbeit einen Förderpreis.

NUE2025 dankt Stephan Raab für den Text und die Erlaubnis seine Arbeit hier anbieten zu können.

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